Ordnung von Welt
Zum Werk von Anna Tatarczyk
Klarheit ist Wahrhaftigkeit in der Kunst.
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Die geometrisch bestimmte Abstraktion hat in den vergangenen 100 Jahren einige Wandlungen erfahren – und als die so genannte Konkrete Kunst ihre Haltung etabliert hatte, dass Farbe und Form allein keineswegs abstrakt, sondern genauso konkret wie jedes beliebige bildnerische Motiv seien, wurde das geometrische Alphabet vielfach durchdekliniert. Umso überraschender fällt es auf, wenn sich eine ganz eigenständige Bildsprache aus diesem Geiste heraus gründet. Diesen Eindruck bekommt man vor dem Werk von Anna Tatarczyk. Die mögliche Verortung ihrer Kunst zwischen Op Art und Konkreter Kunst sowie zwischen Minimalismus und Arte Povera macht dieses Werk besonders.
Dass sie ganz anders geprägt wurde, macht den Schritt in die geometrische Abstraktion umso beeindruckender. In ihrer Vita fallen die Namen von Jörg Immendorff auf, dessen Assistentin sie für zwei Jahre war, sowie von A. R. Penck und Siegfried Anzinger, bei denen sie – nach einem Germanistikstudium – an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte. Alle drei stehen nun nicht für abstrakte Malerei, wohl aber für ein neues Bewusstsein für die Malerei. Als Anna Tatarczyk sich entschied, die landschaftlichen Elemente ihrer frühen Arbeiten mit geometrischen Formen zu unterlaufen, war die Entscheidung für die Raute als Stilmittel durchaus konsequent.
Die Raute nimmt unter den geometrischen Formen eine besondere Stellung ein – ihre Einbindung von Drei- und Vierecken macht sie im wahrsten Sinne des Wortes facettenreich, ihre Symbolkraft macht sie über die mathematische Struktur hinweg auch für transzendente, wenn nicht gar mystische Ideen nutzbar. Anna Tatarczyk hat selbst auf die inhaltliche Verwendung rhombischer Formen in der prähistorischen Zeit verwiesen und auch auf die Heraldik, in der die Raute auch oft zum Gegenstand wird. Der Rhombus taugt als informationsästhetisches Element von Verkehrszeichen genauso wie als philosophisches Denkbild – man denke an den Rhomboeder in Albrecht Dürers so berühmtem wie geheimnisvollem »Melencolia«-Bild von 1514 oder an die »Rauten-Zunft« des Dichters Philipp von Zesen innerhalb seiner um 1642 gegründeten »Deutschgesinnten Genossenschaft«, die als Projektion menschlicher Vorstellung auf eine übergeordnete geometrische Ordnung der Welt gedacht war – das himmlische Jerusalem ließ grüßen.
Anna Tatarczyk bedient sich der Raute nicht nur um der Form willen. Sie führt die Konkrete Kunst weiter, die klassischerweise in der Fläche bleibt. In chromatischen Farbabläufen und kristallinen Strukturen bringt die Künstlerin die Symmetrie der Rauten in eine optische Schwingung. Das Auge des Betrachters nimmt einen Mittelpunkt ins Visier, von dem aus der Blick wahlweise nach allen Seiten und regelrecht mit der Rhythmik abfließen kann – oder es macht an einem anderen Punkt Halt, der die Harmonie durchbricht: Die Spannung der Arbeiten ist der Antagonismus von Gleichklang und sphärischen Irritationen. Das Licht, das hier stets mit im Spiel ist macht dieses »konkrete« Werk zu einer erfrischenden Wiederkehr der Op Art. Das wird überdeutlich in der Verräumlichung der Farbstufen. Mit einem grandiosen Gespür für die Licht-Raum-Wirkung der Farbskalen vermag Anna Tatarczyk pyramidale Illusionsbilder aus der Leinwand hervorzaubern – freilich bleibt alles optischer Trug, der jedoch einem faszinierenden Spieltrieb folgt. Denn sie macht bei der vergleichsweise einfachen Pyramidenform nicht Halt, wie sie auch die Raute vielfach fragmentiert, Rauten in der Raute provoziert und deren Logik segmentiert.
Wichtig ist für Anna Tatarczyk die Überwindung der reinen Form, wenn auch nicht der Klarheit. Wir können ihren malerischen Vorgaben objektiv folgen, die Handschrift selbst bleibt verborgen, sprich: es ist keine Pinselspur zu erkennen. Wir konstatieren auch die Reduktion auf einfache geometrische Figuren, auch wenn diese sich in nahezu serieller Varianz vervielfältigen. So kann man die Arbeiten der Künstlerin auch dem Minimalismus zuordnen, wenn man ihn in seiner postmodernen Spielart begreift. Die nämlich widersetzt sich der ursprünglich programmatischen Entpersönlichung durch eine neue Sensibilität, zunächst für die Farbe, dann auch für die Individualisierung. Dafür sprechen die Titel, mit denen Anna Tatarczyk die rhombischen Szenerien dramaturgisch auflädt. »Die befleckte Braut«, »Earth«, »Gypsy«, »Savant«, »Solar Wind« usw. loten menschliche Beweggründe aus, verweisen auf kosmische Zusammenhänge und verrätseln die Inhalte. Dazu kommt noch eine Besonderheit, die man kaum dem Minimalismus zuordnen kann als vielmehr der Arte Povera: Anna Tatarczyk grundiert ihre Leinwände mit transparenten Mitteln, das heißt, sie bleiben im Hinter- bzw. Untergrund naturbelassen. Das steigert nicht nur das eigentliche Motiv, sondern verweist auch die Illusion in seine Schranken: was hier entsteht, ist Malerei und nichts anderes. Die Geometrie, das kristallklare Wesen basiert auf dem Rupfenstoff des Bildträgers. Das erlaubt der Malerin auch mal, sich einen Spaß zu machen mit der scheinbaren Vollendung, wenn sie etwa in der kleinformatigen Serie »Ene, mene muh« die Rautenform selbst verlässt und die Farbe sich selbst spielen lässt, erkennbar vor bzw. über der nackten Leinwand.
Anna Tatarczyk bereichert die nichtgegenständliche Kunst mit ihrer innovativen, vielschichtigen, stringenten und spielfreudigen Bildsprache. In allen Formaten, die zuweilen auch monumental anmuten, schafft sie eine gleichsam vom Verstand wie vom Gefühl geleitete Ordnung, die sich nicht scheut, auch unser aller Denkgebäude nachhaltig zu beeindrucken.
Günter Baumann, Mai 2021
Anna Tatarczyk. Das Licht malen.
Über die Kunstidee von Anna Tatarczyk
Von Xiao Xiao Kunstwissenschaftlerin MA
Was Sie hier sehen ist die Grundform eines dreidimensionalen geometrischen Körpers, dessen Seitenflächen aus Dreiecken besteht und der in unserer realen Welt mit ägyptischen Pyramiden assoziiert wird. Die optische Wirkung einer pyramidenförmigen Geometrie erzeugt Anna Tatarczyk mit Farben in verschiedenen Lichtstufen. Diese experimentelle Idee der Künstlerin folgt der europäischen kunstgeschichtlichen Entwicklung: die unermüdliche Suche nach der Perspektive.
Das perspektivische Sehen ist ein räumliches Sehen. Wir befinden und bewegen uns in einem Raum, der dreidimensional konstruiert ist. Es gibt keinen zweidimensionalen Raum, mit Ausnahme des bildnerischen Raums, der Träger eines Bildes ist. Auf diesem Bildträger bzw. Bildgrund versuchten Künstler seit der Antike, die Welt entsprechend der menschlichen Sehenserfahrung wiederzugeben. Es war stets eine Herausforderung, unter zweidimensionalen Rahmenbedingungen Dreidimensionalität darzustellen! Das räumliche Sehen des Menschen ergibt sich aus dem stereoskopischen Sehen, das sich ergibt, wenn wir mit beiden Augen unsere räumliche Umgebung bzw. Gegenstände wahrnehmen. Unsere Wahrnehmung ist ein von dem Seheindruck erzeugtes, aus den Eindrucken des rechten und des linken Auges kombiniertes Bild. Durch das stereoskopische Sehen wird das Bild vor unseren Augen dreidimensional und räumlich. Genaugenommen handelt sich bei der Kunstidee von Anna Tatarczyk um die Sichtbarmachung der optischen Technik, die unser dreidimensionales räumliches Sehen auszeichnet. Die Optik wird auch als Lehre vom Licht bezeichnet. Durch ihre Beschäftigung mit der Wechselwirkung von Licht und Farben macht Anna Tatarczyk ihre künstlerische Idee erfahrbar. Sie nutzt den pyramidischen geometrischen Körper als Gegenstand ihrer künstlerischen Untersuchung des Verhältnisses von Licht und Farben. Eine Farbe, in die verschiedene Helligkeitsstufen hineingemischt werden, wird durch das Aufhellen hervorgehoben; im Gegensatz dazu mischt die Künstlerin der Farbe verschiedene Dunkelheitsstufen bei, um auf der Leinwand Tiefe zu erzeugen. Allein durch dieses Gestaltungsprinzip werden die Pyramiden erzeugt, die aus der Leinwand zu springen und in den Raum hinein zu treten scheinen. Optisch sind die Pyramiden gegenständlich. Sie provozieren die Augen und bringen einen zu der Überlegung, was man tatsächlich vor sich sieht. Das Farbenmischen ist der wesentliche Teil des künstlerischen Prozesses von Anna Tatarczyk. Besonders bei der diamantähnlichen Pyramide kommt der Aspekt der vielfältigen Licht-Farbe-Wechselwirkung zu tragen. Für die Künstlerin ist dies ist ein quälender Schaffensprozess, um das physische Phänomen der Lichtbrechung durch verschiedene Leuchtkräfte der Farben zu ästhetisieren. Anna Tatarczyk verarbeitet ihre künstlerische Erfahrung von Perspektive nicht durch die Konstruktion eines Bildes, in dem Raumtiefe dargestellt wird. Sie geht vielmehr ihren eigenen Weg, auf dem sie versucht, Licht zu malen. Im Unterschied zu Impressionisten befasst Anna Tatarczyk sich bildnerisch mit dem Verhältnis des Lichts zu den Farben nicht im Rahmen einer Landschaftsdarstellung, sondern baut es in einem geometrischen Körper auf. Offenbar sind dies die Gründe, weshalb ihr künstlerischer Ausdruck, den sie in ihrer 18-jährigen künstlerischen Karriere hervorgebracht hat, reiner und klarer denn je wirkt.
© Katarzyna Lorenc | Oberschlesisches Landesmuseum
„Form – Farbe – Licht“ – drei Begriffe, die durch einen langen Bindestrich miteinander verbunden oder voneinander getrennt werden. Drei Ingredienzien, die die Kunst von Anna Tatarczyk ausmachen und den Titel unserer Ausstellung bilden. Tatarczyk wurde im oberschlesischen Loslau (Wodzisław Śląski) geboren und kam vor 30 Jahren, 1994, ins Rheinland. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität widmete sie sich ganz der Malerei. Die Düsseldorfer Kunstprofessoren Jörg Immendorff, A. R. Penck und Siegfried Anzinger haben Sie geprägt. Warum erwähne ich diese biografischen Daten? Zum einen, weil ein Studium an der Akademie ein Qualitätssiegel ist, schließlich zählt die Düsseldorfer Kunstakademie zu den renommiertesten Kunsthochschulen weltweit, zum anderen, weil eine (von mir bisher unerwähnte) Station in Tatarczyks Leben, nämlich eine vierjährige Anstellung am Tanzhaus NRW, für mich in den Arbeiten sichtbar wird. Ich war und bin fasziniert davon, wie die statischen Objekte plötzlich beweglich wirken. Vielleicht hätte ich die Schwingung in die drei Begriffe des Titels einbauen sollen. Beim nächsten Mal.
Aber zurück zu der Form. Eine Raute. Eine vollständige Reduktion auf eine Form. Nichts Neues in der Kunst. Wenn wir an die Werke des kroatischen Künstlers Julije Knifer denken, der sein Leben lang Mäander gemalt hat, oder – räumlich viel näher – an den Bottroper Josef Albers mit seiner Homage to the Square (die Huldigung des Quadrats). Hier zeigt sich, wie facettenreich eine Reduzierung sein kann. Sie entfaltet die Form, erzeugt eine meditative Wirkung, wirft Fragen auf, bei Tatarczyk ganz konkret: Wie funktioniert die Diagonale? Die Parallele? Das Entgegengesetzte? Es wird geteilt, multipliziert, errechnet. Für jede Raute gilt: Gegenüberliegende Seiten sind parallel, gegenüberliegende Winkel sind gleich groß, diese werden durch eine Diagonale halbiert, die beiden Diagonalen stehen senkrecht aufeinander und halbieren einander. Ist die Raute die vollkommene Form? Für Tatarczyks Oeuvre: ein klares Ja!
Die Farbe. Spätestens seit dem Bauhaus – und in Deutschland wieder seit dem Jubiläumsjahr 2019 – wissen wir um die Wirkung von Farbe und die in Weimar, Dessau und Berlin konzipierte und gelebte Farbenlehre. Doch die nachweisbare Farbforschung reicht weiter zurück. Das subjektive Farbempfinden wird zum kollektiven Erleben. Helligkeit, Sättigung, Kontrast, Farbnuancen, Spannungen zwischen den Farben sind Tatarczyks Werkzeuge. Für sie und letztlich für den Betrachter sind diese Farben eine Übersetzung von Emotionen und Erinnerungen. Mal als Farbpaar, mal als ganze Farbpalette zeigt Tatarczyk die Kraft und Wirkung der Farbe, ihren Zweck, ihre Assoziationen und tiefere Bedeutung. Ganz nach Kandinsky: Blau wirkt kalt, steht für Himmel, Übersinnliches, Unendlichkeit und Ruhe, wirkt konzentrisch, Gelb ist warm, irdisch bis aufdringlich, aber auch aggressiv und exzentrisch.
Die dritte Zutat, von mir bisher als Helligkeit und Sättigung bezeichnet, bezieht sich vor allem auf die dritte Komponente unseres Ausstellungstitels: das Licht. Nur durch dessen gekonnte Brechung entsteht die optische Täuschung, die Raute, die immer wieder aus der Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität springt. Ein mathematisches Unterfangen, das hier mit höchster Präzision in Acryl auf naturbelassener Leinwand umgesetzt wurde. In einem für diese Ausstellung geführten Interview äußerte sich die Künstlerin dazu: “Die Illusion der Dreidimensionalität wird durch die scharfe Trennung der Farbfelder und die exakte Abstimmung der Farbnuancen erzeugt. Wichtig für das Gesamtbild sind auch die Proportionen der einzelnen Elemente. Da meine Bilder jeweils aus einem Objekt bestehen, bin ich gezwungen, sehr genau zu arbeiten. Mit den Farben und einer exakten Mischtechnik gelingt es mir, die dritte Dimension hervorzuzaubern und sozusagen »das Licht zu malen«. Obwohl viel Technik und Geometrie im Spiel ist, sind meine Bilder mehr als eine Raute. Die Konzentration auf das Wesentliche und die klare Anordnung innerhalb des Körpers vermitteln Ruhe und Harmonie und strahlen eine meditativ-poetische Aura aus.“
Ich erlaube mir, meiner Einführung in das Werk von Anna Tatarczyk noch eine Zutat hinzuzufügen: das Spielerische, das Heitere. Ich verstehe die Werke auch als eine Einladung – natürlich mit der entsprechenden Entfernung – in sie einzutauchen, denn hätten Sie es erraten, dass das Werk “Rubikon Aqua” aus 21 Blautönen und 100 Feldern besteht?
Anna, vielen Dank für diese Möglichkeit, der Kunst auf so vielfältige Weise zu begegnen. Und Ihnen viel Vergnügen!